Eintauchen in den Alltag taubblinder Menschen
Bundesbehindertenbeauftragter Jürgen Dusel besucht das Blindeninstitut Würzburg
Wie lernen Kinder, die weder sehen noch hören können? Was braucht ein taubblinder Mensch, um in einer Werkstatt arbeiten zu können? Bei einem Besuch im Blindeninstitut Würzburg am 18. Juli 2024 bekam der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, Jürgen Dusel, Einblicke in den Alltag taubblinder und hörsehbehinderter Menschen. Die Blindeninstitutsstiftung ist seit über 45 Jahren eines von wenigen Kompetenzzentren für Taubblindheit in Deutschland.
Kommunikation über taktiles Gebärden
Wie wichtig das Fühlen und Berühren für ihn ist, macht der 14-jährige Lucas dem Gast aus Berlin schon bei der Begrüßung deutlich. Er geht in eine Klasse für taubblinde Jugendliche in der Graf-zu-Bentheim-Schule. Lucas kommuniziert über taktiles Gebärden. Dabei legt er seine Hände auf die Hände seines Gesprächspartners, so dass er die Bewegungen und Formen der Gebärden spüren kann. Auch er selbst spricht über taktile Gebärden, die seine Lehrerin Maria Rascher-Wolfring für Jürgen Dusel übersetzt.
Nachvollziehbare Tagesstrukturen für mehr Selbstbestimmung
Lucas erzählt dem Behindertenbeauftragten, was er heute noch so alles vorhat und zeigt ihm seinen Stundenplan in dieser Woche und seinen Jahresplaner. Beide Pläne enthalten Karten, die mit Braille-Schrift versehen sind. Auf manchen der Karten sind zusätzlich verschiedene Miniaturen-Gegenstände angebracht, die für bestimmte Ereignisse stehen. Eine Krone zum Beispiel für einen Geburtstag.
Nachvollziehbare Tagesstrukturen sind für Lucas auch am Nachmittag in seiner Wohngruppe wichtig: Wann ist Ergotherapie? Welche Mitarbeitenden sind heute für den Dienst in der Gruppe eingeteilt? Ist am Wochenende ein Ausflug in die Stadt geplant? Natürlich bestimmt Lucas mithilfe der Miniatur-Gegenstände und Tafeln selbst mit, was er in seiner Freizeit machen möchte.
Schwimmen nicht nur ein Hobby
Gruppenleiterin Stefanie Tröster berichtet dabei von einer seiner Lieblingsbeschäftigungen: Lucas geht sehr gerne schwimmen. Aber bislang fand sich noch niemand, der ihm das Seepferdchen abnehmen würde. Jürgen Dusel verspricht, den taubblinden Jungen wieder zu besuchen, wenn er es geschafft hat. „Schwimmen sollten alle Kinder und Jugendlichen lernen – egal ob sie eine Behinderung haben oder nicht“, betont der Behindertenbeauftragte.
„Schwimmen sollten alle Kinder und Jugendlichen lernen – egal ob sie eine Behinderung haben oder nicht.”
Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung
Berufliche Teilhabe in der Werkstatt
In der Bentheim Werkstatt trifft Jürgen Dusel auf Patrick Radecke, der gerade Schrauben sortiert. Der taubblinde Mann hat aber auch schon an der großen Bohrmaschine gearbeitet. Auch für ihn sind klare Strukturen, ein aufgeräumter Arbeitsplatz und entsprechende Hilfsmittel wichtig. Werkstattleiterin Stefanie Löhner erklärt, dass sie dafür eigens Werkzeugbauer hat, die sich zusammen mit den Mitarbeiter*innen mit Behinderung überlegen, wie sie den jeweiligen Arbeitsplatz sicher und barrierefrei gestalten können.
Bitte um Unterstützung für eigenen Förderschwerpunkt „Taubblind“
„Auf die individuellen Bedürfnisse und Stärken der taubblinden Menschen einzugehen und zusammen mit ihnen eine gemeinsame Sprache zu entwickeln“, macht der Vorstand der Blindeninstitutsstiftung Johannes Spielmann bei dem Besuch deutlich, „ist die Voraussetzung dafür, dass sie ihr Leben möglichst selbstbestimmt gestalten können“. Dafür brauche es auch die entsprechende personelle Begleitung durch gut ausgebildete Fachkräfte. Im Bildungssystem sieht Johannes Spielmann, der zurzeit geschäftsführender Verantwortlicher der deutschlandweiten Arbeitsgemeinschaft aller Einrichtungen für taubblinde Menschen (AGTB) ist, noch eine große Lücke.
„Auf die individuellen Bedürfnisse und Stärken der taubblinden Menschen einzugehen und zusammen mit ihnen eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, ist die Voraussetzung dafür, dass sie ihr Leben möglichst selbstbestimmt gestalten können.”
Johannes Spielmann, Vorstand der Blindeninstitutsstiftung
Seit der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes im Jahr 2017 ist Taubblindheit als Behinderung eigener Art anerkannt und mit einem eigenen Merkzeichen versehen. Schulisch müsste sich dies aus Sicht der AGTB in einem eigenen Förderschwerpunkt „Taubblind“ widerspiegeln. Bislang bilden die schulischen Rahmenbedingungen den spezifischen Bedarf taubblinder Kinder und Jugendlicher in vielen Bundesländern nicht ab. Jürgen Dusel sagte zu, dieses wichtige Anliegen gegenüber den politisch Verantwortlichen zu unterstützen, um die Rechte von Menschen mit Taubblindheit auf eine angemessene schulische Bildung zu stärken.
Neue Beratungsstelle für taubblinde Menschen
An anderer Stelle hat sich die Unterstützung durch den Bundesbehindertenbeauftragten bereits bewährt: So startet am Blindeninstitut Würzburg schon bald ein neues Beratungsangebot speziell für taubblinde und komplex behinderte Menschen, das sie bei der Durchsetzung ihrer Rechte auf Selbstbestimmung und Teilhabe unterstützen soll. Es schließt eine Versorgungslücke, die die Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) nicht abdeckt. Die neue Beratungsstelle in Würzburg wird auch dank eines Empfehlungsschreibens von Jürgen Dusel von der Aktion Mensch mit rund 300.000 Euro gefördert.
Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus
Auch ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Blindeninstitutsstiftung interessiert den Behindertenbeauftragten der Bundesregierung bei seinem Besuch: Mit Wissen, Willen und Einverständnis der damaligen Leitungsverantwortlichen wurden junge blinde Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus zwangssterilisiert. An einer Skulptur aus Stahlringen, die die Stiftung vor zwei Jahren zum Gedenken an diese Verbrechen errichtet hat, legt Jürgen Dusel zusammen mit Vorstand Johannes Spielmann und seinen Mitarbeitenden unter musikalischer Begleitung weiße Rosen nieder.