MEDIZINISCH-THERAPEUTISCHE ANGEBOTE – NACHGEFRAGT
„Für eine aufsuchende Medizin“
NACHGEFRAGT: Verona Mau ist Ärztin im Blindeninstitut Thüringen in Schmalkalden. Sie hat dort seit der Gründung eine umfassende interdisziplinäre und multiprofessionelle medizinische Versorgung für schwerbehinderte Menschen etabliert. Wenn sich Medizin und Therapien an den individuellen Bedürfnissen der betroffenen Menschen orientieren, gelingt sehr viel, sagt sie.
Von Martina Häring
Frau Mau, eine Behinderteneinrichtung mit eigener Ärztin: Das ist eher ungewöhnlich, oder? Verona Mau: Das gibt es in Deutschland so gut wie nie. Ich selbst kenne nur eine weitere Einrichtung mit so dicht in den Lebensalltag integrierter ärztlicher Präsenz. Wir haben hier also ein Alleinstellungsmerkmal, und ich empfinde es als sehr gewinnbringend. Die komplex behinderten Menschen, die wir hier schwerpunktmäßig betreuen, profitieren sehr davon, dass wir zu ihnen in ihr Lebensumfeld kommen. Ich bezeichne das auch als aufsuchende Medizin. Die ungewohnte Situation in einer Arztpraxis oder Klinik ist für diese Personengruppen sehr verunsichernd. Außerdem können die Betreuungspersonen uns wertvolle Hinweise geben und beruhigend wirken, z. B. wenn wir einmal Blut abnehmen müssen. Mit welchen Krankheiten haben es Ihre Patienten zu tun? Schwer- und komplexbehinderte Menschen haben spezifische Risiken für bestimmte Erkrankungen wie Epilepsie, Bewegungsstörungen, Magen-Darm-Probleme, Zahnerkrankungen, Osteoporose, Schilddrüsenerkrankungen, psychische Erkrankungen und bestimmte Syndrome. Viele unserer Klienten haben auch Körper- und Sinnesbehinderungen, die bislang nicht diagnostiziert wurden, weil das eine sehr genaue Beobachtung erfordert. Außerdem sind bei ihnen sowohl Krankheitsverläufe als auch Symptome anders, da ihre Wahrnehmung und ihr Zeitgefühl anders sind. Es lässt sich nur schwer unterscheiden, ob Symptome psychisch oder körperlich bedingt sind.
Denn viele körperliche Symptome äußern sich durch vermeintliche Verhaltensauffälligkeiten wie Rückzug oder (auto-)aggressives Verhalten. Auch hier muss man sehr genau hinschauen, beobachten und die Betreuungspersonen befragen. Was braucht es, um diese Menschen adäquat medizinisch zu versorgen? Man braucht ein gutes interdisziplinäres Netzwerk aus Innerer Medizin, Neurologie, Psychiatrie, Orthopädie und weiteren Fachrichtungen. Wir versuchen, die Ärzte wenn möglich hierherzuholen, was oft sehr gut funktioniert. Aber auch intern arbeiten Pflege, Pädagogik, Psychologie, Logopädie, Ergo- und Physiotherapie sehr eng zusammen. Was mich immer wieder fasziniert, sind die Lebensfreude und die Kompetenz der sehr schwer behinderten Menschen, durch die wir sehr viel lernen können. Wie meinen Sie das? Ich denke zum Beispiel an einen unserer Bewohner: Peter J. war unser erster Schüler hier, er kam im September 1994 mit sechs Jahren zu uns, heute ist er 33 Jahre alt. Wegen einer Hirnschädigung durch eine Infektion in der Schwangerschaft ist er in seiner kognitiven und motorischen Entwicklung beeinträchtigt. Durch seine Zerebralparese hat er eine Skoliose (seitliche Wirbelsäulenverbiegung). In der Folge wurde seine Lunge irgendwann nicht mehr genügend belüftet, im Jahr 2008 musste er deswegen ins Krankenhaus. Dort meinten die Ärzte, dass Peter eigentlich eine nächtliche Maskenbeatmung brauchen würde. Aufgrund seiner Behinderung konnten sie sich aber nicht vorstellen, dass das funktionieren würde. Wie haben Sie reagiert? Ich habe dafür plädiert, es einfach auszuprobieren, und es hat geklappt. Seitdem hat Peter nachts eine Atemmaske – ähnlich wie manche Schnarcher – und kommt gut damit zurecht. Er hatte bisher kaum Lungenentzündungen und seine Lungenfunktion hat sich nicht gravierend verschlechtert. Sogar eine Covid-Erkrankung hat er überstanden. Was können wir Ihrer Meinung nach aus Peters Geschichte lernen? Es war für mich nicht absehbar, dass hier im Blindeninstitut Thüringen einmal nichtinvasive Beatmung durchgeführt werden kann. Aber wir haben viel dazulernen dürfen. Peter ist ein gutes Beispiel für die Lebensqualität, die bei schwerbehinderten Menschen oft vorhanden ist und die notwendig ist, um Krisen zu bewältigen. Denn die gibt es immer wieder. Atemprobleme sind bei schwerbehinderten Menschen oft lebenslimitierend. Durch die gemeinsame Anstrengung im Team, durch den intensiven Austausch, die kurzen Wege und die Orientierung an den individuellen Bedürfnissen unserer Patienten gelingt sehr viel. Wir können die Zahl der Krankenhausaufenthalte minimieren, und ich denke, dass auch die Lebenserwartung steigt. Das ist für mich auch ein Aspekt der Teilhabe: nämlich Teilhabe an guter medizinischer Versorgung.
„Menschen wie Peter brauchen kein Mitleid. Für ihn ist seine Behinderung ein normaler Zustand, und auch wir sollten seinen Zustand als normal annehmen.“
Kathrin J., Mutter von Peter