SCHWERPUNKT WOHNEN UND LEBEN – MITERLEBT
Von gut umsorgt bis selbstständig
MITERLEBT: Die sechsjährige Marilyn wird in einer Wohngruppe optimal gefördert. Der 55-jährige Klaus Götzenberger hat seinen Traum von den eigenen vier Wänden wahrgemacht.
Von Martina Häring
Marilyn lebt in der Außenwohngruppe des Blindeninstituts Regensburg in Hemau.
Schublade auf, Schublade zu. Das scheint momentan die Lieblingsbeschäftigung von Marilyn zu sein. Mal lässt sie sie sanft gleiten, mal laut knallen. Dem Geräusch lauscht Marilyn aufmerksam, das verraten ihre Augen und ihre Körperhaltung: neugierig, konzentriert und unermüdlich. Die sechsjährige Marilyn gilt als vollblind. Seit einem halben Jahr wohnt sie in einer Wohngruppe des Blindeninstituts in dem kleinen Städtchen Hemau bei Regensburg. Davor lebte sie zu Hause bei ihrer Mutter und ging in einen inklusiven Kindergarten. Nun ist sie von Sonntagabend bis Freitagnachmittag in Hemau, Wochenenden und Ferien verbringt sie bei ihrer Mutter oder ihren Großeltern. „Marilyn war ein Überraschungspaket für uns alle“, sagt die Pädagogin Katharina Galfinger. Niemand wusste, wie es mit dem Kind in der Wohngruppe klappen würde, in der außerdem noch vier Teenager zwischen 16 und 19 Jahren leben. Aber Marilyn hat sich schnell eingewöhnt und wurde von allen akzeptiert – offen, kontaktfreudig und liebenswert, wie sie ist. Für die Mutter war es zwar anfangs nicht leicht, ihr Kind für mehrere Tage in der Woche abzugeben. Aber dank vieler Telefonate und stetiger Kommunikation hat auch sie schnell Vertrauen in Marilyns Wohngruppenteam gewonnen. Die täglichen Abläufe sind für Marilyn inzwischen selbstverständlich geworden. Morgens wird sie vom Bus in die Schule und um 12 Uhr wieder nach Hause gebracht, wo schon das Mittagessen auf sie wartet. Die perfekte Gelegenheit, eine neu erlernte Gebärde anzuwenden. Ans Kinn tippen bedeutet essen – ein Wort, das man nicht oft genug sagen kann. Danach ist erst der leidige Tagesordnungspunkt Zähneputzen dran, dann eine Mittagspause im eigenen Bett mit Panflöten-CD. „Akku aufladen“ nennt Katharina Galfinger das, um nach der anstrengenden Schule wieder fit für den Nachmittag zu werden.
Auf dem „Pony“ wird das Laufen geübt. Dabei orientiert Marilyn sich an Geräuschen, die von ihrer Erzieherin produziert werden.
Sonderpädagogin Katharina Galfinger ist mit Leidenschaft bei der Sache.
Wohnen ist ein Multifunktionsbereich Die Abläufe, die für Marilyn gut funktionieren, haben die Erzieher durch unermüdliches Ausprobieren gefunden. Am Anfang hat sie noch viel geschrien. Jetzt kommuniziert sie differenzierter. Neben ersten Gebärden spricht Marilyn auch einige Silben und sagt „Mama“ und „Oma“. Oft „lautiert“ sie auch wie ein Kleinkind, um mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. All das tut sie mit großer Begeisterung – ein Zeichen dafür, dass sie sowohl in der Gebärden- als auch in der Lautsprache ein großes Potenzial hat. Wohnen in einer Wohngruppe des Blindeninstituts – das bedeutet für Kinder wie Marilyn nicht nur, einen Ort zu haben, an dem sie sich wohl und geborgen fühlen. Katharina Galfinger, die eigentlich Sonderpädagogik studiert hat, sieht das Wohnen als eine Art Multifunktionsbereich, in dem vieles möglich ist. Hier läuft alles zusammen, ob Kommunikation mit Schule und Eltern, Arztbesuche, Freizeitgestaltung, bei Jugendlichen die Umgangsregeln mit Smartphone und Tablet oder das Festlegen von Förderzielen. Alle beteiligten Disziplinen stimmen sich ab, um an einem Strang zu ziehen. Mal geht es darum, sich selber die Zähne zu putzen, mal ums Kochenlernen – und bei Marilyn zurzeit um Mobilität.
Ein „Pony“ zum Spielen und Lernen Im Wohnzimmer, wo inzwischen alles verletzungssicher ist, rollt sie sich gerne auf dem Teppich um die eigene Achse. Aber weil heute so ein schöner, sonniger Tag ist, wird erst mal im Garten unter lautstarkem Gelächter geschaukelt. Dann fragt die Erzieherin, ob sie auf einen Gehtrainer namens „Pony“ will, was Marilyn mit einem heftigen Kopfnicken bejaht. Nun fängt ein neues Spiel an: Katharina Galfinger schnippt mit den Fingern, Marilyn orientiert sich am Geräusch und bewegt sich auf ihrem „Pony“ so weit auf sie zu, dass sie die Hand greifen kann. Die hält sie fest, zieht sich daran vorwärts und drückt sich wieder weg. Hin und zurück, hin und zurück, am besten kombiniert mit den passenden „Fahrgeräuschen“ – das findet Marilyn spannend und lustig. „Das könnten wir jetzt den restlichen Tag so weitermachen“, kommentiert Katharina Galfinger. Laufen lernen – auch das sollte bei Marilyn irgendwann klappen, glaubt sie. Während Marilyn laufen und sprechen lernt, schlägt sich einer der Mitbewohner mit den Zugangsdaten seines Spotify-Accounts herum. Für die 18- und 19-Jährigen heißt es jetzt auch, sich beim Übergang in den Erwachsenenbereich begleiten zu lassen. Sie besuchen in der Regel die Berufsschulstufe des Blindeninstituts, um herauszufinden, was ihnen gefällt und was für sie möglich ist – etwa das Arbeiten in einer Werkstatt oder Förderstätte.
Meilenstein: Neben ersten Gebärden spricht Marilyn mittlerweile auch einige Silben.
In den eigenen vier Wänden: Klaus lebt gemeinsam mit seiner Verlobten in einer Zwei-Zimmer-Wohnung des Blindeninstituts.
Endlich eine eigene Wohnung Einer, der diesen Übergang längst hinter sich hat, ist Klaus Götzenberger. Er hat 43 Jahre lang in einer Wohngruppe des Blindeninstituts Würzburg gelebt. „Im Blindeninstitut kann man viel lernen“, sagt der heute 55-Jährige. Seit gut einem Jahr wohnt er mit seiner Verlobten in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, die dem Blindeninstitut gehört. Putzen, waschen, einkaufen, kochen – all das übernimmt er selbst. Aber das Kochen macht ihm von diesen Dingen am meisten Spaß. „Meine Mutter hat mir beigebracht, wie man Hackbraten und Ente à l’Orange macht“, sagt er voller Stolz in seinem Fernsehsessel sitzend. In der Wohnung gibt es gleich zwei Fernseher und DVD-Player, weil das Paar so gerne Filme und Serien schaut. Aber auch auswärts essen, wenn in der Lieblingskneipe Schnitzeltag ist, oder eine Pizza, das gönnen sich die beiden ab und zu mal.
Dass sie dann nach Hause kommen können, wann sie möchten und ohne auf andere Mitbewohner Rücksicht nehmen zu müssen, wissen sie zu schätzen. Auch das Ausschlafen am Wochenende, ohne gestört zu werden, genießen die beiden inzwischen sehr. 43 Jahre in der gleichen Wohngruppe – das war lange gut, aber irgendwann nicht mehr das Richtige. Denn zum einen gab es viel Hin und Her durch Umzüge und Bewohnerwechsel. Zum anderen hat es mit den Mitbewohnern zuletzt nicht mehr so gut gepasst. Mit seinem Wunsch, in eine eigene Wohnung zu ziehen, hat Klaus Götzenberger nicht überall offene Türen eingerannt. Der eine oder andere war skeptisch, ob das klappen würde. Aber er blieb hartnäckig und setzte sich schließlich durch. Die Selbstständigkeit wurde zuerst in der Wohngruppe geübt. Inzwischen braucht er nur noch bei bestimmten Dingen Unterstützung, zum Beispiel, wenn er ein Formular ausfüllen muss. Dann kann er über ein Diensthandy einen Erzieher rufen. Er und seine Verlobte fühlen sich wohl in den eigenen vier Wänden und sind froh, dass sie diesen Schritt gemacht haben. Das Zusammenleben klappt gut, und nächstes Jahr wollen sie heiraten. Ein Anliegen haben sie jedoch: mehr barrierefreie Wohnungen. Sie haben mit ihrer Erdgeschosswohnung Glück gehabt, doch viele andere müssen Treppen überwinden. Da gibt es noch Verbesserungsbedarf.
„Meine Mutter hat mir beigebracht, wie man Hackbraten und Ente à l’Orange macht.“
Klaus Götzenberger