SCHWERPUNKT WOHNEN UND LEBEN – NACHGEFRAGT
Neue Weichenstellung – und eine gewaltige Aufgabe
NACHGEFRAGT: Mehr Wahlfreiheit und mehr Selbstbestimmung im Leben. Menschen mit Behinderung werden in Zukunft anders wohnen. Was der Wandel für das Blindeninstitut bedeutet, erklären Institutsleiter Thomas Heckner und Holger Werner, Gesamtleiter Wohnen Erwachsene.
Von Martina Häring
Die Art, wie Menschen in der Blindeninstitutsstiftung wohnen, verändert sich gerade. Inwiefern? Thomas Heckner: Früher war der Weg meist vorgezeichnet: Nach der Schule wohnte man entweder bei den Eltern oder wurde bei uns aufgenommen. Heute gibt es Menschen, die neue Wege gehen, selbstständig leben, sich selber eine Assistenz organisieren und die Finanzierung mit dem Kostenträger abstimmen. Noch vor einigen Jahren war so etwas undenkbar. Für uns ein deutliches Signal, dass sich die Zeiten ändern und dass wir umdenken müssen, eine Art Zeitenwende. Warum ändern sich die Zeiten? Thomas Heckner: Das hat mehrere Gründe. Die UN-Behindertenrechtskonvention von 2009 enthält zentrale Forderungen zu Themen wie Selbstbestimmtheit. Der Fürsorgegedanke ist abgelöst worden durch ein partnerschaftliches Verhältnis. Behinderte Menschen sollen nicht nur betreut und umsorgt werden, sondern selbst gestalten können. Das steht auch im Bundesteilhabegesetz. Holger Werner: Die Klienten und ihre Eltern werden aber auch selbstbewusster und sagen: Ich möchte ein selbstständiges Leben, so wie alle anderen auch. Und dann ist da noch das Pflege- und Wohnqualitätsgesetz, das zum Beispiel größere Zimmer, Einzelzimmer und einen direkten Zugang zu einem Badezimmer vorschreibt. Dazu kommt, dass der Erwachsenenbereich aus demografischen Gründen wächst. Die Menschen werden immer älter und überleben ihre Eltern.
Von links: Gesamtleiter Wohnen Erwachsene Holger Werner und Institutsleiter Dr. Thomas Heckner.
Was bedeutet das für das Blindeninstitut? Thomas Heckner: Wir müssen unsere Einrichtung mit einer Übergangsfrist von 30 Jahren vollständig dem Gesetz anpassen. Demnach kann kein Bereich unserer 39 Wohngruppen so bleiben, wie er ist. Im Prinzip müssen wir das komplette Blindeninstitut baulich erneuern, was in 30 Jahren definitiv nicht zu schaffen ist. Denn der Gesetzgeber fordert das zwar auf der einen Seite, auf der anderen stellt er aber nicht die Mittel dafür bereit. Was wird sich neben baulichen Aspekten noch verändern? Holger Werner: Das Bundesteilhabegesetz ermöglicht es, Hilfen im Sinne personenzentrierter Leistungen differenzierter zu machen. Auch hier wird sich ganz viel verändern, weil wir die Leistungen bislang sehr gemeinschaftlich ausschütten. In Zukunft wird ein Teil davon individuell sein. Thomas Heckner: Wir werden deutlich dienstleistungsorientierter sein. Unsere Mitarbeiter werden mehr Zeit damit verbringen, ihre Leistungen mit den Klientinnen und Klienten oder den Eltern zu verhandeln und zu dokumentieren. Wenn zum Beispiel Eltern wollen, dass ihre Tochter zweimal pro Woche ins Schwimmbad gehen kann, müssen unsere Mitarbeiter gemeinsam mit den Eltern und dem Kostenträger aushandeln, wie das realisiert wird. Damit es nicht zu teuer wird, müssen solche Angebote gruppenübergreifend stattfinden, wir müssen das also koordinieren. Wenn jemand sagt, er geht bis elf Uhr ins Kino, dann geht er bis elf Uhr ins Kino. Da müssen wir uns überlegen, wie wir das gestalten. Diese Entwicklung müssen wir mit den Klienten sowie den Eltern gehen. Wird es auch neue Wohnformen geben? Thomas Heckner: Wir wollen nicht eine Kopie dessen bauen, was wir schon haben, sondern den Menschen Wahlmöglichkeiten und Alternativen anbieten. Etwa in Kitzingen, wo statt acht nur sechs Bewohner in einer Wohngruppe leben werden. Aufgrund der notwendigen Sanierungen werden fast alle Bewohner ihren angestammten Platz verlassen müssen. Wir wollen die Gelegenheit nutzen, um die Vielfalt der Angebote auszubauen, zum Beispiel ein spezielles Haus für Menschen mit Taubblindheit. Und auch ältere Menschen brauchen neue Konzepte. Wir wollen ihnen die Möglichkeit geben, ihren Ruhestand selbst zu gestalten und gemütlich zu verbringen. Hier sehen wir die Chance, dass durch die notwendigen Veränderungen ein Aufbruch möglich wird. Wie werden diese Veränderungen aufgenommen? Thomas Heckner: Wir müssen auch unsere Mitarbeiter mitnehmen weg vom Fürsorge- und hin zum Dienstleistungsverständnis. Dazu brauchen wir die Erfahrung, dass jemand sich entscheidet und einen neuen Weg geht. Dann sehen wir: Ach so, so geht es ja auch. Das sind für uns willkommene Anlässe, die wir unterstützen. Einzelne Bewohner, die sich über Jahrzehnte ihren Traum vom selbstständigen Leben bewahrt haben – das sind Kronzeugen des gewaltigen Strebens nach Selbstbestimmtheit, das jedem Menschen zu eigen ist. Bei allen Grenzen, die uns gesetzt sind, sind wir uns bei der Blindeninstitutsstiftung einig, dass wir diesen Weg innerhalb dieser Grenzen hin zu mehr Selbstbestimmung unserer Klienten gehen wollen, mit allen Konsequenzen. Das ist letztlich unsere DNA. Unser Gründer hat diesen Gedanken schon vor 170 Jahren auf revolutionäre Art entfaltet. Das ist eine gute Voraussetzung, diese gewaltige Aufgabe zu bewältigen, die sicher noch die nachfolgenden Generationen beschäftigen wird.
„Das Bundesteilhabegesetz ermöglicht es, Hilfen im Sinne personenzentrierter Leistungen differenzierter zu machen.“
Holger Werner, Gesamtleiter Wohnen Erwachsene
Hier entsteht Neues: In Kitzingen sind die Baumaßnahmen für neue Wohnangebote bereits in vollem Gange.