SCHWERPUNKT WOHNEN UND LEBEN – VORGESTELLT


Im Bann der Wut

VORGESTELLT: Im Blindeninstitut finden auch extrem herausfordernde Bewohner sichere Orte.

Von Pat Christ

Adea steht mit Gruppenmitarbeiterin Katrin Warzlberger in einem Raum. Katrin zeigt Adea etwas in ihrer Hand und die Situation ist ruhig und friedlich.

Adea zusammen mit Gruppen­mitarbeiterin Katrin Warzlberger. Noch ist die Stimmung friedlich, doch das kann sich jederzeit ändern.

In der Gruppe, in der Adea wohnt, ist von morgens bis abends immer eine Menge los. Hier begegnet Adea anderen Menschen. Hier lernt sie. Von hier aus bricht die 20-Jährige zu ihren geliebten Spaziergängen auf. Adea lebt in einer Intensivgruppe im Kinder- und Jugendbereich (IKIG). Zwei solcher Gruppen mit jeweils fünf jungen Bewohnerinnen und Bewohnern gibt es derzeit im Blindeninstitut. Adea wohnt in der 9a. Leben, Lernen und Wohnen findet hier ganzheitlich in einem integrierten Setting statt. Gesellschaftlich gesehen stellen Teenager wie Adea ein brennendes Problem dar. Sie ist in ihrer Intelligenz stark beeinträchtigt. Sie kann sich nicht lautsprachlich verständigen. Hat große feinmotorische Probleme. Und gerät sehr oft in gravierende psychische Not. „Soziale Kontakte kann sie nur schwer aushalten“, schildert IKIG-Bereichsleiterin Silke Radmacher. Fast jeden Tag passiert es, dass Adea von jetzt auf gleich ausrastet. Meist ohne dass auch nur der allergeringste Grund zu erkennen wäre. Dann kann es sein, dass sie wild um sich schlägt. Stets besteht die Gefahr, dass sie dabei sich oder andere verletzt. Auch diese jungen Menschen, so das Credo des IKIG-Teams, können und müssen gefördert werden. „Es handelt sich um Kinder und Jugendliche, die aus allen Bezügen gefallen sind“, erklärt Radmacher. Tausendmal schon scheiterten sie wegen ihrer schweren kognitiven, psychischen und sozialen Einschränkungen: „Was viel Ratlosigkeit und sehr viel Verzweiflung in ihrem Umfeld verursacht, der Leidensdruck ist wirklich enorm.“ Das Blindeninstitut schuf mit seinen beiden Spezialgruppen sichere Orte für jene sehr besonderen jungen Menschen: „Wir haben uns für diese Kinder und Jugendlichen entschieden und tun das immer wieder, auch und gerade dann, wenn es schwerfällt.“ Adea ist nicht imstande, zu reflektieren, und kann deshalb ihre Emotionen nicht aus eigener Kraft regulieren. Dass sie derart aggressiv ist, liegt nicht an ihrem Charakter, sondern an ihrer psychiatrischen Diagnose. Allein die Art und Weise, wie die Räume ihrer Wohngruppe gestaltet sind, hilft, die Aggressivität zu dämpfen. Adeas Zimmer zum Beispiel ist extrem minimalistisch eingerichtet. Sowohl ihr Bett als auch die Zimmerwände sind dick gepolstert. „Von diesem sicheren Raum aus kann Adea gut in ihren Tag starten“, berichtet Radmacher. Der beginnt um 6.30 Uhr mit dem Wecken und Waschen, bevor es zum Frühstück und dann in die integrierte Schule geht. In der sozialen Arbeit wird auf jedes Einzelschicksal geachtet. Pauschalisierungen verbieten sich, denn dadurch wird man dem Gegenüber nicht gerecht. Dieser sozialpädagogische Grundsatz wird in den beiden IKIG-Wohngruppen besonders intensiv beherzigt. Das 20-köpfige Team muss extrem individuell auf jede einzelne Bewohnerin und jeden einzelnen Bewohner eingehen. Selbst gemeinsame Mahlzeiten sind nicht möglich. Zu schnell könnte die Situation eskalieren. Etwa durch ein Geräusch, das als unangenehm empfunden wird.

In Adeas Zimmer steht in der rechten Ecke ein Bett. Ansonsten sind keine Einrichtungsgegenstände zu erkennen. Das Bett und die cremefarbigen Wände sind dick gepolstert.

Das minimalistisch eingerichtete Zimmer hilft Adea dabei, ihre Aggressivität zu dämpfen.

Kinder, die eine Flut von emotionalen und sozialen Problemen zu bewältigen haben, sind meist auch als junge Erwachsene nicht „einfach“. So gelang es in den zurückliegenden Jahren in vielen Fällen nicht, die Bewohner der Intensivgruppe in ein reguläres Angebot zu vermitteln. Aus diesem Grund eröffnete die Blinden­institutsstiftung im September 2020 eine neue Sozialtherapeutische Wohngruppe (STG) für Erwachsene. Fünf Menschen im Alter zwischen 18 und 40 Jahren leben hier zusammen. Einer von ihnen ist der blinde Janis. Oft, so scheint es von außen, gärt in Janis die Wut. „Bricht diese Wut durch, kann man Janis nicht einmal mehr die Hand geben, dann muss er am Seil geführt werden, da er die Hände sonst völlig zerkratzen würde“, schildert Kerstin Schüller, die für das Wohnen im Erwachsenenbereich zuständig ist. So wie jeder Mensch hat Janis das Bedürfnis, sich sicher zu fühlen und Situationen, die ihn verunsichern, kontrollieren zu können. Je vertrauter er sich in seiner Umwelt fühlt, umso stabiler ist sein emotionales Befinden. In diesen Momenten lacht, singt und scherzt der 18-Jährige mit den Gruppenmitarbeitern. Aufgrund seiner Einschränkungen im visuellen, kognitiven und körperlichen Bereich geschieht es häufig, dass er von einem Moment auf den anderen das Gefühl von Sicherheit und Kontrolle verliert. Weil zu viele Reize auf ihn einströmen, es keine Quarkbällchen mehr gibt oder er sich nicht sicher ist, ob seine Mama wirklich am Samstag anruft. In seiner Hilflosigkeit und Überforderung greift er dann die Menschen an, die ihm eigentlich helfen wollen. Eine adäquate Kontaktaufnahme ist in solchen Situationen nicht mehr möglich. Hinter solchen extremen Verhaltensweisen stecken Bedürfnisse. Sie aufzuspüren und zu protokollieren zeitigt große Erfolge, so Schüller. Auch Janis ist heute viel weniger aggressiv als noch in seiner alten Gruppe. Zur riesigen Erleichterung seiner Mutter. Ohne die STG, weiß sie, wäre ihr Sohn womöglich für lange Zeit in der Psychiatrie gelandet.