SCHWERPUNKT SCHULE UND LERNEN – MITERLEBT
Für jeden genau die richtige Förderung
MITERLEBT: Wie das Lernen in einer Offenen Klasse der Graf-zu-Bentheim-Schule abläuft – und wie der MSD blinde und sehbehinderte Schüler in ganz Unterfranken betreut.
Von Martina Häring
Dass es sich um kein gewöhnliches Klassenzimmer handelt, merkt man schnell: Nur acht Schülerinnen und Schüler sitzen in der Klasse S7/9R der Graf-zu-Bentheim-Schule. Alle haben einen Laptop vor sich, drei der Tische sind mit noch mehr Technik ausgestattet. Und auch die Tafel ist digital. Gerade wird Informatik unterrichtet. Wie kann man mit Hilfe von Excel möglichst einfach eine Preisberechnung durchführen? Material- und Energiekosten, Gewinn und Mehrwertsteuer ergeben zusammen den Endpreis des Produkts. Auf einem Arbeitsblatt, das die Schülerinnen und Schüler beschriften sollen, ist das schematisch mit Hilfe von Kreisen und Linien dargestellt.
Grafiken, die ertastet werden können.
Die 17-jährige Nour ist eine der Schülerinnen der Klasse, die die Jahrgangsstufen 7 bis 9 umfasst. Da sie fast vollständig blind ist, bekommt sie alles, was an der digitalen Tafel steht, von ihrem Lehrer als Datei auf dem Laptop. Den Text lässt sie sich von einer speziellen Software auf ihrem Laptop vorlesen. Dafür setzt sie zwischendurch einen Kopfhörer auf. Mit der schematischen Darstellung auf dem Arbeitsblatt funktioniert das aber nicht. Für solche Zwecke gibt es ein spezielles Druckverfahren, eine sogenannte Schwellkopie. Nour kann die Linien und Kreise auf diesem Blatt ertasten. Damit sie es auch beschriften kann, stellt ihr Lehrer die Begriffe zum Aufkleben in Braille-Schrift zur Verfügung. Außerdem ist mit ihrem Laptop eine sogenannte Braille-Zeile verbunden, die digitale Texte in Braille-Schrift umwandelt. Nour lässt ihre Fingerspitzen über die feinen Punkte auf dem Gerät wandern.
Grafiken, die ertastet werden können.
Die 17-jährige Nour ist eine der Schülerinnen der Klasse, die die Jahrgangsstufen 7 bis 9 umfasst. Da sie fast vollständig blind ist, bekommt sie alles, was an der digitalen Tafel steht, von ihrem Lehrer als Datei auf dem Laptop. Den Text lässt sie sich von einer speziellen Software auf ihrem Laptop vorlesen. Dafür setzt sie zwischendurch einen Kopfhörer auf. Mit der schematischen Darstellung auf dem Arbeitsblatt funktioniert das aber nicht. Für solche Zwecke gibt es ein spezielles Druckverfahren, eine sogenannte Schwellkopie. Nour kann die Linien und Kreise auf diesem Blatt ertasten. Damit sie es auch beschriften kann, stellt ihr Lehrer die Begriffe zum Aufkleben in Braille-Schrift zur Verfügung. Außerdem ist mit ihrem Laptop eine sogenannte Braille-Zeile verbunden, die digitale Texte in Braille-Schrift umwandelt. Nour lässt ihre Fingerspitzen über die feinen Punkte auf dem Gerät wandern.
Einen Tisch weiter sitzt Afnan. Sie ist hochgradig sehbehindert und nutzt einen großen Bildschirm, auf den das Bild ihrer am Tisch befestigten Kamera übertragen wird. Die Kamera richtet sie je nach Bedarf auf die Tafel oder auf das Arbeitsblatt, das vor ihr auf dem Tisch liegt. Damit kann sie sich einzelne Bereiche stark herausvergrößern. Wenn sie dann mit den Augen nah an den Monitor geht, kann sie die Zahlen in der Excel Tabelle lesen. Genauso macht es der 15-jährige Hussam neben ihr, der ebenfalls mit Kamera und Bildschirm arbeitet. In der Reihe vor Nour, Afnan und Hussam sitzen drei weitere Jugendliche, die keine speziellen technischen Hilfsmittel, aber andere Unterstützung zum Sehen benötigen, sowie zwei Schülerinnen ohne Sehbehinderung. Das ist das Konzept der „Offenen Klasse“: einer Klasse, die auch Schülerinnen und Schüler ohne sonderpädagogischen Förderbedarf aufnimmt und so eine besondere Form der Inklusion ermöglicht.
Für den Klassenlehrer Tobias Rehnolt bedeutet das, dass er alles andere als Unterricht von der Stange machen kann. Ob Schwellkopie, 3D-Landkarte oder Klassenlektüre in Braille-Schrift – fast alles, was er für blinde und sehbehinderte Schülerinnen und Schüler als Unterrichtsmaterial einsetzt, muss individuell angefertigt werden. Jedes Mal muss er sich überlegen: Wem hilft was in welcher Situation am besten?
Nour liest Texte mittels Sprachausgabe oder Braille-Zeile, ein Gerät, das digitalen Text in Braille-Schrift ausgibt.
Nour musste Deutsch und Braille lernen Dazu kommt, dass jede Schülerin, jeder Schüler eine eigene Geschichte hat. Nour zum Beispiel hat eine dramatische Flucht hinter sich. Auf dem Weg von Syrien nach Deutschland wurde bei ihr ein Gehirntumor diagnostiziert, seit der Operation kann sie kaum noch sehen. Umso beeindruckender ist es, in welch kurzer Zeit sie die deutsche Sprache und die Braille-Schrift gelernt hat – in der Kombination eine große Herausforderung. Im Moment plant sie, den Schulabschluss und anschließend eine Ausbildung zur Bürokauffrau zu machen, denn Mathe liegt ihr besonders, sagt sie. Hussam dagegen war bis vor wenigen Wochen noch auf einer Mittelschule in seinem Wohnort Haßfurt, wo er vom Mobilen Sonderpädagogischen Dienst Sehen (MSD) betreut wurde. Jetzt, wo Schulabschluss und Praktika anstehen, wurde es für ihn zunehmend schwieriger. Weil er in der Schule nicht mehr so gut mitkam, entschied er sich zum Wechsel und ist bis jetzt sehr glücklich damit.
Ob Regelschule mit Betreuung durch den MSD oder Förderzentrum mit Förderschwerpunkt Sehen – die Entscheidung muss immer individuell getroffen werden und hängt unter anderem davon ab, wie stark die Beeinträchtigungen sind. Manchmal braucht es auch einen Wechsel von dem einen in das andere Modell, so wie bei Hussam.
Das Bild zeigt ein Arbeitsblatt als Schwellkopie.
Afnan kann Bildschirminhalte durch Vergrößern und Erhöhen des Kontrasts visuell erfassen.
Schulen in ganz Unterfranken werden angefahren
Viele Schülerinnen und Schüler bleiben aber auf Dauer bei der Inklusion und kommen gut damit zurecht, berichtet Markus Held, der als Förderschullehrer im MSD der Graf-zu-Bentheim-Schule tätig ist. Zurzeit ist er vor allem an Regelschulen im Einsatz, davor lag sein Schwerpunkt eher auf Förderschulen. Auch hier ist mitunter die Unterstützung und Beratung durch den MSD gefragt, denn nur ein eher kleiner Teil der Lehrkräfte an Förderschulen ist auf die Fachrichtung Blinden- oder Sehbehindertenpädagogik spezialisiert.
Markus Held ist viel unterwegs. Im Rahmen des Mobilen Sonderpädagogischen Dienstes Sehen (MSD) berät er Lehrkräfte in den Schulen und muss dafür auch die Situation vor Ort kennen.
So fahren er und seine Kolleginnen und Kollegen Schulen in ganz Unterfranken an. „Zusammen kommen wir locker auf über 15.000 Kilometer im Jahr“, so Held. Hauptsächlich geht es darum, Lehrkräfte, Eltern und Schülerinnen und Schüler zu beraten, aber auch Diagnostik durchzuführen, geeignete Hilfsmittel auszuwählen, zu beantragen, einzuführen und immer wieder zu schauen, wie es damit läuft. Ein Teil der Kinder ist der Schule schon vor Schuleintritt durch die Frühförderung bekannt, dann beginnt eine Beratung des MSD zu erforderlichen Hilfsmitteln schon vor der Einschulung. Bei einem anderen Teil fällt erst später auf, dass der Schüler ein Problem mit dem Sehen hat und diesbezüglich eine spezielle Förderung braucht.
Bei blinden Grundschulkindern ist besonders viel Unterstützung nötig, nicht nur in Bezug auf den Unterricht, sondern auch im Schulalltag, in Pausen- und Essenssituationen etwa. „Da schaut man dann schon ein Mal pro Woche vorbei“, sagt Held. Bei Kindern und Jugendlichen, deren Sehbehinderung nicht so stark ausgeprägt ist, läuft es manchmal so gut, dass es gar keinen Beratungsbedarf mehr gibt. Aber wenn doch, begleiten die Lehrkräfte des MSD ihre Schülerinnen und Schüler oft über die ganze Schulzeit hinweg – von der Einschulung bis zum Schulabschluss. Der Übergang von der Schule in den Beruf ist dann nochmal eine heiße Phase und eine besondere Herausforderung. Er wird intensiv begleitet, danach endet die Betreuung durch den MSD.
„Wenn man jemanden über Jahre betreut, baut man eine Bindung auf“, so Held. „Die Schülerinnen und Schüler erleben, dass die Unterstützung, die wir bieten, ihnen wirklich hilft. Und umgekehrt hat man auch Achtung und Bewunderung für die Kinder, die trotz des anspruchsvollen Settings oft beachtliche Leistungen zeigen.“