SCHWERPUNKT SCHULE UND LEBEN – VORGESTELLT
Wie Noah das Leben lernt
VORGESTELLT: Es geht nicht um die Vermittlung von Wissen in Mathe oder Deutsch, in Bio oder Religion. In der Regensburger Schule der Blindeninstitutsstiftung lernt der achtjährige Noah Dinge, die für ihn wesentlich wichtiger sind.
Von Pat Christ
Noah nutzt Hilfsmittel zum Kommunizieren. Indem er mit dem Kopf einen Button drückt, kann er zum Beispiel in ein Lied einstimmen.
„Er lernt sozusagen das Leben“, sagt Schulleiterin Britta Büchau. Zu leben, das ist für Noah gar nicht so einfach. Der Junge ist blind. Er kommuniziert ohne Worte. Er kann sich auch nur eingeschränkt bewegen. „Was und wie er denkt, bleibt für uns ein Mysterium.“
In Regelschulen beginnt der Unterricht, wenn alle Kinder an ihren Plätzen sitzen. In Schulen, in denen Kinder mit komplexen Behinderungen unterrichtet werden, beginnt der pädagogische Prozess hingegen bereits vor dem Klassenzimmer. Sobald Noah in der Schule eintrifft, wird er von einer Bezugsperson empfangen. Behutsam hilft sie ihm, die Jacke auszuziehen. Da Noah nicht sieht, was seine Bezugsperson tut, wird jeder Vorgang verbalisiert. So kann sich der Junge darauf einstellen. Indem Noah allmählich begreift, dass er beim Ausziehen der Jacke den Arm lockerlassen muss, lernt er. Der eigentliche Schultag beginnt mit dem Morgenkreis. An dem nimmt der Rollstuhlfahrer aufgerichtet im Stehständer teil. Für Menschen, die sich noch nie mit komplexen Behinderungen beschäftigt haben, ist es schwer zu verstehen, wie schwerstbeeinträchtigte Kinder lernen können. Das erfährt Britta Büchau immer wieder. Geduldig erklärt sie, was „Lernen“ in Noahs Fall heißt. Im Kochunterricht zum Beispiel kann der Achtjährige zwar keine Tomaten schnippeln und kein Küchengerät bedienen. Aber er lernt, zu verstehen, was ein Mixer ist, indem er die Vibration des Apparats körperlich spürt. Außerdem bekommt er Lebensmittel zu kosten, die er von daheim nicht kennt. Er lernt also, was man alles essen kann: „In kleinen Schritten erweitert sich so sein Erfahrungshorizont.“
Es braucht Detektivarbeit
Während sich nicht behinderte Kinder in Noahs Alter neues Wissen aneignen, indem sie der Lehrerin aufmerksam zuhören und an die Tafel schauen, hängt der Lernerfolg in Noahs Fall eng von der Aufmerksamkeit seiner Bezugspersonen ab. „Die leisten Detektivarbeit“, sagt Britta Büchau. Die Sonderpädagogin erläutert dies am Beispiel des Musikunterrichts. Über sein Sprachausgabegerät hat Noah die Möglichkeit, in den Refrain eines Liedes einzustimmen. Dazu muss er den Kopf ein wenig nach rechts lehnen, um einen bestimmten Knopf zu erreichen. Drückt er den Button ganz bewusst an bestimmten Liedstellen? Oder zufällig? Ebendies gilt es, herauszufinden.
Statt Orthographie und Rechenkünste zu vermitteln, ist das Team der Regensburger Schule darauf spezialisiert, die leisesten Signale der insgesamt 120 Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen 6 und 20 Jahren zu identifizieren. Noah zum Beispiel streckt manchmal die Zunge heraus. Das tut er nicht nur, aber auch, wenn er Hunger hat. Darauf reagiert seine Bezugsperson so lange, bis Noah versteht: Wenn ich Hunger habe, ist es gut, die Zunge herauszustrecken. Denn dann erhalte ich etwas zu essen. Bei jedem einzelnen Signal gilt es, herauszufinden, für welches existenzielle Bedürfnis es steht, so Büchau: „Darüber kann dann eine Kommunikation hergestellt werden.“
Es gehört ein ordentliches Quantum Liebe zum Leben dazu, um die Arbeit leisten zu können, die in der Regensburger Schule geleistet wird. „Wer sich bei uns engagiert, ist von der Idee begeistert, dass auch Kinder mit komplexen Behinderungen lernen können“, sagt Büchau. Diese Kinder zu fördern, setzt voraus, dass alles dafür getan wird, dass sie sich körperlich wohlfühlen. Das gelingt bei Noah dadurch, dass seine Bezugspersonen genau wissen, wann der Junge sitzen, wann er stehen und wann er liegen muss.
Das Team um Britta Büchau erfährt immer wieder, dass sich ungeahnte Möglichkeiten eröffnen, wenn man mit detektivischem Spürsinn darangeht, die Signale der komplex behinderten Kinder und Jugendlichen zu interpretieren. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten werden die Schülerinnen und Schüler selbstständiger. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten können sie zumindest etwas selbstbestimmter leben. „Lernen funktioniert bei uns jedoch nur, wenn jeder Schüler und jede Schülerin eine Bezugsperson an seiner oder ihrer Seite hat, die fähig ist, sich ganz und gar auf dieses eine Kind zu konzentrieren, ohne die anderen Kinder aus dem Blick zu verlieren.“
STICHWORT KOMPLEXE BEHINDERUNG
Unter einer komplexen Behinderung versteht man eine Kombination von Behinderungen, die das tägliche Leben stark beeinträchtigen können. Dabei kann es sich um körperliche, geistige, emotionale oder soziale Beeinträchtigungen handeln. Dieser Personenkreis benötigt umfassende Unterstützung in allen Lebensbereichen. Etwa 80 Prozent der Menschen, die am Blindeninstitut Regensburg beschult werden, haben eine komplexe Behinderung.